20.02.2007

Sind Hausfrauen die neuen „Rabenmütter"?

Deutschland: Im Streit um die Krippenpläne wird das Wohl des Kindes übersehen

Sind Hausfrauen die neuen „Rabenmütter"?

Deutschland: Im Streit um die Krippenpläne wird das Wohl des Kindes übersehen

Als im Jahr 2002 in Deutschland der damalige SPD-Generalsekretär Olaf Scholz verlangte, die SPD solle die „Lufthoheit über den Kinderbetten“ erobern, hagelte es heftige Proteste – auch von den Kirchen. Derzeit macht sich Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) daran, diese Lufthoheit zu erobern. Mit Plänen zum massiven Ausbau von Kinderkrippen, wie man das in dieser Dimension bislang eher von den Sozialisten kannte, bringt sie einige Parteifreunde gegen sich auf. Die Kirchen halten sich zurück. Eine Frage lassen auch sie offen: Wer ist in dieser Debatte eigentlich Anwalt der Kinder? Ein Kommentar von idea-Reporter Marcus Mockler.
Der Plan der siebenfachen Mutter Ursula von der Leyen ist ehrgeizig: Bis zum Jahr 2013 soll es in Deutschland 750.000 Betreuungsplätze für Kleinkinder geben – dreimal so viele wie heute. Das wird laut ihrer Kalkulation drei Milliarden Euro kosten, die Bund, Länder und Kommunen gemeinsam aufbringen müssen. Das Ziel für 2013: Jedes dritte Kind im zweiten und dritten Lebensjahr soll dann in einer Ganztageseinrichtung betreut werden.

Wer dafür – wer dagegen?

Beim Koalitionspartner SPD trifft das Vorhaben ebenso auf uneingeschränkte Zustimmung wie in den meisten Massenmedien. Nur in der eigenen Partei hat die Ministerin damit in ein Wespennest gestochen. Der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) regt sich auf, weil das Thema Kinderbetreuung Ländersache ist und hier vom Bund Versprechungen gemacht werden, die dann die Länder finanziell ausbaden müssen. Viel wichtiger sind aber die inhaltlichen Einwände: Immer mehr Christdemokraten sehen durch die Bundesfamilienministerin inzwischen die traditionelle Familie bedroht, bei der die Mutter zumindest in den ersten Lebensjahren des Kindes vollzeitlich für den Nachwuchs da ist.

Berufstätige bevorzugt

Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) kritisiert etwa, dass Frau von der Leyen einseitig berufstätige Mütter bevorzuge. „Ich möchte nicht, dass diese CDU Frauen unter Rechtfertigungszwang setzt, wenn sie sich dafür entscheiden zu Hause zu bleiben, um sich um die Kinder zu kümmern“, sagte er dem „Spiegel“. Der sächsische Kultusminister Steffen Flath warnt davor, das Krippensystem der DDR wieder auferstehen zu lassen. CSU-Generalsekretär Markus Söder sieht ebenfalls eine Schlagseite bei Frau von der Leyen zugunsten berufstätiger Mütter: „Die Ministerin schießt eindeutig über das Ziel hinaus.“ Und der CSU-Landesgruppenchef im Bundestag, Peter Ramsauer, spricht von einer „Sozialdemokratisierung“ der Union.

Psychologen warnen

Zwei Fragen stehen zur Debatte. Erstens: Soll und darf der Staat die Berufstätigkeit von Müttern fördern und forcieren? Darüber wird jetzt eifrig diskutiert. Zweitens: Was ist das Beste für das Kleinkind – ständige Verfügbarkeit eines Elternteils (in der Regel der Mutter) oder professionelle Betreuung? Zur zweiten Frage hört man so gut wie nichts. Dabei müsste eigentlich entscheidend sein, ob Krippenbetreuung einem kleinen Menschen eher schadet oder eher guttut. Und hier gibt es alarmierende Befunde, die weitgehend ignoriert werden. So haben im vergangenen Jahr 110 Kinderpsychologen, Ärzte und Pädagogen einen Brief an die englische Zeitung „Daily Telegraph“ geschrieben, in dem sie vor den Schäden der Fremdbetreuung für Kinder unter drei Jahren warnen. Die Unterzeichner sind renommierte Wissenschaftler – etwa der Präsident des Zentrums für die geistige Gesundheit von Kindern, Sir Richard Bowlby (London), der amerikanische Psychologe Prof. Allan Schore und der australische Psychologe Steve Biddulph. Die Experten warnen vor emotionalen Störungen und einer Beeinträchtigung der Gehirnentwicklung. Zu frühe Fremdbetreuung ziehe in einem erheblichen Maß Verhaltensauffälligkeiten der Kinder nach sich.

Dramatische Auswirkungen

Diese Befunde sind alles andere als neu. Schon vor 30 Jahren warnte die Psychotherapeutin und damalige EKD-Synodale (und 1987 zur römisch-katholischen Kirche übergetretene) Christa Meves (Uelzen) vor der frühen Trennung von Mutter und Kind. Ganz neu und bislang unveröffentlicht sind dagegen Langzeitstudien des Heidelberger Präventionsmediziners Professor Ronald Grossarth-Maticek. Seine Ergebnisse sind dramatisch: Für einen Menschen gibt es nichts Besseres als eine ununterbrochene Mutter-Kind-Beziehung in den ersten Lebensjahren, gefolgt von einer späteren gesunden Ablösung von der Mutter. Ganz konkret heißt das: Von 1.000 Kindern, die diese gesunde Beziehung erleben durfte, werden später nur 48 rauchen, 34 alkoholsüchtig sein, 13 vor dem 60. Lebensjahr an Krebs erkranken. Wurde die Beziehung zur Mutter dagegen traumatisch unterbrochen – und sei es nur durch einen mehrtägigen Krankenhausaufenthalt – sehen die Zahlen selbst bei einer später erfolgten gesunden Ablösung von der Mutter ganz anders aus: Von 1.000 Kindern werden dann 330 Raucher, 212 alkoholsüchtig und 117 vor dem 60. Lebensjahr krebskrank.

Nichts bestimmt mehr �

„Nichts bestimmt ein Leben mehr als die frühkindlichen Beziehungen“, ist Grossarth inzwischen überzeugt. Das hat auch Auswirkungen auf den Glauben. Bei den Menschen mit ununterbrochener Mutter-Kind-Beziehung und gesunder Ablösung sind 85,8 Prozent religiös – bei denen mit Unterbrechung der Beziehung zur Mutter und fehlender Ablösung von ihr sind es gerade noch 3 Prozent. Grossarth weiß, dass seine Zahlen noch genauerer Untersuchungen bedürfen. Er will sie erst veröffentlichen, wenn sie ein etwas komplizierteres Auswertungsverfahren im Computer durchlaufen haben. Seine Langzeitstudie macht aber einen Trend deutlich: Für das Glück und das Unglück eines Menschen könnte es geradezu lebensentscheidend sein, wie er die ersten Jahre verbringt.

Vorbild Frankreich?

In der breiten Werbung für mehr Kinderbetreuung haben solche Erkenntnisse natürlich keinen Platz. Wie ideologisch die Auseinandersetzung ist, zeigte in der vergangenen Woche die Veröffentlichung einer neuen Studie des UN-Kinderhilfswerkes Unicef über die Lage der Kinder in Industrienationen. Untersucht wurden unter anderem die materielle Situation, Gesundheitszustand und Bildungsstand. Sieger unter 21 Ländern sind die Niederlande, auf Platz 6 steht die Schweiz, Deutschland genau in der Mitte auf Platz 11, die rote Laterne tragen die USA und Großbritannien. Erstaunlich: Frankreich, das in den vergangenen Jahren immer wieder als Vorbild an Familienbetreuung gepriesen wurde, erreicht nur Platz 16. Darüber hätte man bei der Vorstellung der Studie von Familienpolitikerinnen gerne etwas gehört. Denn man könnte so ein Ergebnis auch als Warnung vor dem französischen Weg begreifen.
Stattdessen wurde aber auch als Konsequenz der Studie sofort ein Ausbau der Kinderbetreuung gefordert – obwohl die Ergebnisse das Gegenteil nahelegen. „Die Zahlen der Studie zeigen eindeutig, dass die Bundesländer, in denen es die wenigsten Ganztagsangebote gibt (Bayern und Baden-Württemberg), in nahezu allen Belangen am besten dastehen“, sagt die Kinderärztin und Familientherapeutin Maria Steuer (Hollern-Twielenfleth bei Stade), Koordinatorin des Familiennetzwerkes Deutschland. Diese erst 2005 gegründete Initiative hat bereits 45 Regionalbüros in 14 Bundesländern – daran lässt sich ablesen, dass sich der Widerstand gegen die Kinderkrippenlobby formiert.

Eltern verzichten für Eltern

Dabei sind die Kritiker von Frau von der Leyen keineswegs gegen jegliche Krippenbetreuung. Auch sie wissen, dass es in manchen Biographien kaum eine Alternative gibt – zum Beispiel bei Alleinerziehenden. Was sie aber auf die Palme bringt, ist die Frage der Finanzierung. Denn das haben alle Haushaltspolitiker bereits klargestellt: Das Geld für die Krippen muss aus dem Topf der Familienförderung genommen werden. So soll das 2002 letztmals erhöhte Kindergeld weiterhin eingefroren bleiben, um die Betreuung bezahlen zu können. Im Klartext: Eltern sollen für Eltern auf mehr Kindergeld verzichten – auch die mit älteren Kindern, die mehr Kindergeld noch dringender bräuchten, und natürlich die einkommensschwächeren Einverdiener-Haushalte, die nun auch die Doppelverdiener-Haushalte subventionieren.
Dass es auch anders geht, zeigt der Freistaat Thüringen. Wer seine Kinder selbst zu Hause erzieht, bekommt dort einen Teil der sonst für die staatliche Kindererziehung notwendigen Subvention ausbezahlt (150 Euro und mit steigender Kinderzahl mehr). Junge Paare können darüber hinaus mit einem Darlehen des Landes von 5.000 Euro rechnen. Pro Kind wird ein Teil des Darlehens erlassen; bei drei Kindern ist man schuldenfrei. Dass diese Zuwendung auch Unverheirateten gilt, scheint im Widerspruch zum christdemokratischen Leitbild der Ehe zu stehen. Aber auch CDU-Politiker können nicht darüber hinweggehen, dass unverheiratetes Zusammenleben in der ehemaligen DDR das Modell ist, das von der Mehrheit gelebt wird. Eine weitere Leistung, über die Familien ohne staatliche Bevormundung verfügen können, ist das Landeserziehungsgeld, das allerdings nur in den unionsgeführten Ländern Sachsen, Thüringen, Bayern und Baden-Württemberg bezahlt wird.

Feministinnen & Bosse

Die Allianz, die sich für den Ausbau der Kinderkrippen stark macht, ist allerdings extrem breit: Sie reicht von Feministinnen, denen eine Vollzeitmutter aus ideologischen Gründen ein Gräuel ist, bis hin zu Wirtschaftsbossen, die angesichts der demographischen Entwicklung berechtigte Angst vor einem Arbeitskräftemangel haben und insbesondere besser qualifizierte Frauen ungern an deren Kinder verlieren. Im Koalitionsvertrag steht deshalb auch ausdrücklich als Ziel unter der Überschrift „Familienfreundliche Gesellschaft“ (!), die Erwerbsquote von Frauen auf über 60% zu steigern. Die stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Ilse Falk, warnt schon davor, dass Hausfrauen als neue Rabenmütter angesehen werden. Der Kampf um die „Lufthoheit“ hat vielleicht erst begonnen. (idea)