03.10.2022

„Meine Abschiebung wurde mit Schweröl bezahlt“

Evangelische Allianz: Dankesfeier zum Tag der Deutschen Einheit in Lüdenscheid

Artikel von Iris Kannenberg

Quelle: U n s e r e K i r c h e (NR . 43 UK / 23. OKTOBER 2022) - mit freundlicher Genehmigung

Am 3. Oktober 2022 lud die Evangelische Allianz Lüdenscheid unter dem Vorsitz von Irmtraut Huneke - gemeinsam mit der ökumenischen Initiative „Gemeinsame Wege“ - zu einer „Dankesfeier zum Tag der Deutschen Einheit“ auf den Lüdenscheider Rathausplatz ein.

Lüdenscheid. Am 3. Oktober 2022 lud die Evangelische Allianz Lüdenscheid unter dem Vorsitz von Irmtraut Huneke - gemeinsam mit der ökumenischen Initiative „Gemeinsame Wege“ - bereits zum zweiten Mal zu einer „Dankesfeier zum Tag der Deutschen Einheit“ auf den Lüdenscheider Rathausplatz ein.

An diesem Tag waren mit dabei:

  • Der stellvertretende Bürgermeister der Stadt Björn Weiß,
  • die beiden Zeitzeugen Pfarrer i.R. Dieter Rieß
  • und Johannes Köstlin, Kirchenmusiker
  • der katholischen St. Josef und Medardus Gemeinde sowie
  • Pastor Hans Ferkinghoff (Katholische Gemeinde Maria Königin) und der
  • stellvertretende Superintendent des Ev. Kirchenkreises Lüdenscheid-Plettenberg, Martin Pogorzelski.
  • Die musikalische Gestaltung der Dankesfeier übernahm auch in diesem Jahr die Band96.

Nachdem Irmtraut Huneke die Feier bei bestem Wetter eröffnet hatte, sang man gemeinsam mit dem zahlreich anwesenden Publikum ein Lied zum Lob Gottes. Die Allianz-Vorsitzende bat dann Björn Weiß für ein Grußwort der Stadt auf die Bühne. Der  stellvertretende Bürgermeister sprach großes Lob an die Veranstalter für ihren Einsatz aus und äußerte gleichzeitig sein Bedauern darüber, dass Lüdenscheid selbst, an diesem Tag nicht mehr präsent sei. Die vielen Probleme der Stadt seit 2020 erschöpften das  städtische Potenzial. Er sei daher einfach dankbar für diese großartige überkonfessionelle Initiative und wünsche sich auch im kommenden Jahr solch eine Dankesfeier direkt vor dem Rathaus. Pastor Hans Ferkinghoff sprach in seinem geistlichen Impuls über Hoffnung und Glaube und die Verantwortung gegenüber Gottes Schöpfung. Nach ihm betrat der erste Zeitzeuge die Bühne. Pfarrer i.R. Dieter Rieß erzählte berührend über sein „geteilt sein“ zwischen Ost und West. Eine außergewöhnliche Lebensgeschichte. Neun  Jahre lang wanderte er – aufgrund einer ungewöhnlichen Abmachung zwischen DDR und BRD – von der einen Seite zur anderen. Als Schüler in einem Internat im Westen, verbrachte er die Schulferien bei seiner Familie im Osten. Solange, bis er sich endgültig für die eine oder andere Seite entscheiden musste. Er wählte den Westen und hat es nie bereut. Nicht viel später fand er in England zum Glauben an Jesus Christus. Die Wiedervereinigung ist für ihn ein mächtiges Gottesgeschenk, hat er doch am eigenen Leib erfahren, wie  verrissen und zerbrochen das Land 28 Jahre lang tatsächlich war. Deutsche standen Deutschen gegenüber. Nicht nur ideologisch, sondern auch mit Waffen. Heute, nach drei Jahrzehnten Wiedervereinigung kaum noch vorstellbar. Der zweite Zeitzeuge Johannes Köstlin, dessen Vater evangelischer Pfarrer in Halle a.d. Saale war, hatte mit diesem Hintergrund von Beginn seines Lebens an „schlechte Karten“ in der ehemaligen DDR. Schikanen gehörten zum Alltag, doch er beugte sich nicht. Nach dem Besuch eines kirchlichen Gymnasiums studierte er „trotz alledem“ Kirchenmusik. 1988 hielt er es jedoch nicht mehr aus und wagte einen Fluchtversuch, bei dem er prompt geschnappt wurde.

Acht Monate Gefängnis und die Abschiebung in den Westen waren die Folge. Johannes Köstlin, der heute als Kirchenmusiker, Dirigent und Chorleiter in Lüdenscheid lebt und arbeitet, erzählte: „Meine Abschiebung wurde mit Schweröl bezahlt. Das war damals die  Währung, für die man ausgetauscht wurde. Je nach Bedarf, den die DDR gerade hatte. Manchmal war es auch Stahl oder andere Waren, an denen gerade Mangel herrschte. Es war bedrückend, in Haft zu sein. Ich habe jedoch auch Gefangene aus Bautzen kennengelernt. Dagegen war meine Haft eher leicht. Was sie erzählt haben, war wirklich schrecklich.“ Die Zuhörer konnten seine Betroffenheit spüren. Gleichzeitig strahlte Johannes Köstlin so viel Gelassenheit und Fröhlichkeit aus, dass man ihm glaubte, als er ins  Publikum rief: „Ich bin angekommen und empfinde mich heute als echten Sauerländer! Mir geht es gut, ich durfte Frieden darüber finden, was damals passiert ist. Das Einzige, was ich mit Gott manchmal  noch scherzhaft ausdiskutiere, ist die Frage: Konntest Du die Mauer nicht ein Jahr früher fallen lassen? Das wäre wirklich ein feiner Zug von Dir gewesen.“ Nach den Zeitzeugen trat der stellvertretende Superintendent Martin Pogorzelski ans Mikrofon. Er hielt die wohl beeindruckendste Ansprache des Nachmittages. Er sagte:  Jesus ist unser Halt, unser Fels. Auf ihn können wir vertrauen. Ob z.Z. des Mauerfalls oder heute in unserer schwierigen Situation. Gott lässt tatsächlich vieles zu. Es stellt sich uns daher immer wieder die Frage, wie ein liebender Gott wirklich handelt, ja handeln muss, damit wir aufwachen und erkennen, dass ER der Herr ist. Wir  sind dankbar für den Mauerfall. Er war ein Wunder aus Gottes Hand. Aber: Er hat auch den Bau der Mauer zugelassen. Darüber sollten wir nachdenken, wenn wir mit offenen Augen das  betrachten, was jetzt gerade passiert. Warum greift er nicht sofort ein? Aus Liebe. Er möchte jeden einzelnen von uns retten. Dafür muss sich aber auch jeder einzelne persönlich für ihn entscheiden. Wann wenden wir uns Gott zu? Wenn es aufhört, bequem zu sein.“ Die Musik der Band96 unterstützte während der gesamten Feier die vielfältigen geistlichen Impulse und Zeugnisse auf feinfühlige Art und Weise. Die Songs wurden von den Besuchern mitgesungen, es herrschte eine feierliche Stimmung auf dem Platz, der sich auch  zufällig Vorbeikommende nicht entziehen konnten. Viele blieben stehen, es wurde sogar spontan Beifall geklatscht. 

Ein einzigartiger Moment kam, als Bandleader Thomas Tetzlaff zum gemeinsamen Gebet aufrief. Eine fast heilige Stille senkte sich über den  Rathausplatz, dann brach die Sonne durch die Wolken und tauchte alles in ein strahlendes Licht. Wie auf Kommando  setzten von allen Dächern Tauben gleichzeitig zum Flug an. Mindestens hundert von ihnen kreisten über Bühne und Zuschauern. Mehrmals. Einige  logen direkt zwischen den Anwesenden hindurch, ohne sie jedoch zu berühren. Ebenfalls wie auf Kommando flogen die Tauben zurück auf die Hausdächer und waren verschwunden. Ein Zeichen Gottes? Davon waren zumindest viele der Teilnehmenden zutiefst  überzeugt. Es war für einen Augenblick so, als hätte ER mitten unter ihnen gestanden. Die Dankesfeier war gelungen. In  en letzten zwei Jahren angefochten von Kälte, eisigem Wind und Unwetter, war es diesmal so, als wollte Gott ein Versprechen für die kommende Zeit geben: „Ich bin da. Schaut, was ich bereits getan habe. Nichts ist zu klein für mich. Habt Mut und habt Hoffnung.  leibt an meiner Hand, meine Kinder, dann seid ihr auch im stärksten Sturm sicher!“ Irmtraut Huneke, die sich in höchstem Maße für  diese Feier einsetzt und sich von keinem noch so hohen Hindernis abschrecken lässt, moderierte die Veranstaltung gewohnt  Professionell und mit viel Herzblut. Es bleibt zu hoffen, dass es auch im nächsten Jahr möglich sein wird, die Gedenkfeier zum 3. Oktober  u  wiederholen. Sie ist mehr als nur ein Gedenken an das, was vor Jahrzehnten passiert ist. Sie ist ein Zeugnis für die Macht  es Herrn jetzt und heute. Eine lebendige Hoffnung, dass er alles mit uns gemeinsam meistert. Was auch immer auf uns zukommen mag. (ik)