24.09.2018

Marsch für das Leben: 5.300 Teilnehmer in Berlin

Zum 14. Mal fand in Berlin der „Marsch für das Leben“ statt.

Reisende, die an diesem Sonnabend am Berliner Hauptbahnhof ausstiegen, dürften sich gewundert haben: Wer den Bahnhof Richtung Bundeskanzleramt verließ, stand mitten in einer Demo mit grünen Luftballons und Schildern wie „Willkommenskultur auch für Ungeborene“, „Nie wieder unwertes Leben“ und „Zeit für eine große Koalition des Gewissens“. Zum „Marsch für das Leben“ eingeladen hatte der Bundesverband Lebensrecht, ein Zusammenschluss von 13 Organisationen. Die jüngsten Teilnehmer des „Marsches“ sind noch kein Jahr alt, der älteste Teilnehmer ist 92. Viele junge Leute sind dabei, Menschen mit Downsyndrom, Rollstuhlfahrer, Nonnen und Diakonissen, Pfarrer und Priester, ein Mann mit „Frag-mich-nach-Jesus“-Koffer und eine Frau, die den Rosenkranz betet.

 

Zeitgleich wurde zu zwei Gegendemonstrationen aufgerufen – vom Bündnis „What the fuck!“ (Was zum Teufel?) sowie einem „Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung“. Ein Teil der Gegendemonstranten versammelte sich am Hauptbahnhof. „Der Kampf geht weiter. RAF Berlin“, ist auf einem Transparent zu lesen. „Gehet hin und fickt euch“ steht auf einem Plakat, auf einem anderen: „‚Und sähe Maria das Christentum kommen, so trieb‘ sie ab.‘ Matthäus 219a“. Sie blasen in ihre Trillerpfeifen, rufen „Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat“, und ein lesbischer Frauenchor singt ein Lied mit der Zeile: „Eure Normalität, die ist eine Qual – die bringen wir zu Fall“.

 

„Nicht provozieren lassen – egal was wir hören und sehen“, empfiehlt die Vorsitzende des Bundesverbandes Lebensrecht, Alexandra Maria Linder. Ordner verteilen Holzkreuze an die Demonstranten. Ursprünglich hieß die Demo „1.000 Kreuze für das Leben“. Inzwischen reichen die Kreuze längst nicht mehr für alle Teilnehmer, außerdem sind mit den Jahren einige abhandengekommen, manche wurden von „Marsch“-Gegnern entwendet. Etwa 700 sind noch übrig. Die Kreuze sollen an die Abtreibungen erinnern, die täglich im Land stattfinden.

 

Ein 400 Meter langer Lindwurm

 

Der „Marsch“ startet und zieht sich als ein 400 Meter langer Lindwurm durch die Stadt. Der Weg ist etwa fünf Kilometer lang und führt entlang von zahlreichen Sehenswürdigkeiten: Vom Hauptbahnhof geht es vorbei am Naturkundemuseum und der Charité, der Synagoge und dem Monbijou-Park, am Hackeschen Markt und über die Spree. Den Berliner Dom lassen die Demonstranten links liegen, marschieren über die Museumsinsel mit Alter Nationalgalerie, Altem und Neuem Museum, spazieren am Wohnhaus der Bundeskanzlerin und am Pergamonmuseum vorbei, gehen ein kurzes Stück auf der Friedrichstraße, vorbei am ARD-Hauptstadtstudio und dem Haus der Bundespressekonferenz und steuern schließlich wieder auf den Hauptbahnhof zu.

 

Neben Demonstranten und Gegendemonstranten begleitet eine dritte Gruppe den „Marsch für das Leben“. Dutzende Polizeiwagen stehen bereit, die Polizisten sollen den „Marsch“ von Gegendemonstranten abschirmen. Oft sind sie im Laufschritt unterwegs, um auf Befehl schnell zu den Abschnitten zu gelangen, an denen es brenzlig wird.

 

„Eure Kinder werden alle queer“

 

Begleitet wird der Marsch durch Trillerpfeifen und die Rufe der Gegendemonstranten: „Hätt‘ Maria abgetrieben, wärt ihr uns erspart geblieben“ / „Wir sind die Perversen, wir sind euch auf den Fersen“ / „Eure Kinder werden so wie wir – eure Kinder werden alle queer“.

 

In der Höhe der Charité, dem größten Universitätsklinikum Europas, haben sich mehrere Gegendemonstranten Clowns-Kostüme angezogen. Zwei haben sich Gummidildos angeschnallt und schwenken diese hin und her. Die Gegendemonstranten sind überwiegend zwischen 18 und 30 Jahre alt, viele dürften Studenten sein und der linksalternativen Szene angehören. Manche halten eine Bierflasche in der Hand; die Gegendemo ist für sie auch ein Partyspaß. Sie tauchen immer wieder an anderen Punkten der „Marsch“-Strecke auf. Einige sind mit Fahrrädern unterwegs, andere kennen die Abkürzungen und Seitenstraßen und stehen dann schnell wieder an anderer Stelle, um den „Marsch“-Teilnehmern“ den ausgestreckten Mittelfinger entgegenzuhalten.

 

„Viele Christen sind verunsichert“

 

5.300 Personen nehmen in diesem Jahr am „Marsch“ teil, im Vorjahr waren es 7.500. Woran liegt es, dass die Teilnehmerzahl diesmal deutlich niedriger ist? „Vielleicht ist die politische Wetterlage angesichts der Chemnitzer Ereignisse nicht so freundlich“, sagt Gerhard Steier vom Bundesverband Lebensrecht, der die Demonstration angemeldet hat. „Viele Christen sind von den Links-Rechts-Debatten verunsichert.“ Steier beobachtet, dass der Lebensrechtsbewegung immer wieder neue Etiketten angeklebt werden: „Wir galten erst als Anti-Feministen, dann als religiöse Fundamentalisten, und jetzt sollen wir zur ‚Neuen Rechten‘ gehören.“

 

Kritiker missbilligen, dass AfD-Politiker wie Beatrix von Storch und Martin Hohmann am Marsch teilgenommen haben. Die Veranstalter entgegnen, dass jeder mitmachen kann, der die Ziele der Lebensrechtler teilt. Der Marsch versteht sich als überparteilich, und Parteiwerbung – etwa durch mitgeführte Schilder – ist unerwünscht.

 

Was bringt es – außer gesperrten Straßen?

 

Zu den Demonstrationsteilnehmern gehört der Vorsitzende der Deutschen Evangelischen Allianz, Ekkehart Vetter. Warum nimmt er teil? „Ich halte den Lebensschutz für zentral wichtig und glaube, dass er politisch diskutiert werden muss.“ Was bringt der Marsch – außer dass in Berlin-Mitte für mehrere Stunden die Straßen gesperrt sind? „Ich trete für Dinge ein, die ich für richtig halte – unabhängig von ihrem Erfolg“, sagt Vetter. „Ich hoffe auf eine größere mediale Öffentlichkeit.“

 

Tatsächlich sind diesmal mehr Kameras, Mikrofone und Notizblöcke als bei den vorangegangenen Demonstrationen zu sehen, unter anderem berichten ZDF, RBB, dpa, Deutschlandfunk, Berliner Zeitung und tageszeitung (taz).

 

In der Hannoverschen Straße, nahe der Mensa Nord der Humboldt Universität zu Berlin, bilden die Gegendemonstranten plötzlich eine Sitzblockade. Für einen Moment ist die Polizei nicht aufmerksam genug, schon ist die Straße mit etwa 100 Gegendemonstranten blockiert. Nur eine schmale Gasse auf dem Bürgersteig ist noch frei. Die Polizeitaktik ist deeskalierend und rigoros zugleich: Wer bereits auf der Straße sitzt, kann dort bleiben. Wer sich noch dazusetzen will, wird abgedrängt. Das offen gebliebene Nadelöhr verteidigt die Polizei mit vollem Körpereinsatz. Der Marsch wird an dieser Stelle langsamer – er kann aber fortgesetzt werden.

 

Die Szene wirkt bizarr: Ein Polizist hält das Geschehen mit einer Videokamera fest, Fotoreporter schießen Bilder, und auch die Gegendemonstranten filmen, was passiert. Viele Gegendemonstranten tragen Sonnenbrillen, vermutlich, um auf den Videoaufnahmen nicht erkannt zu werden.

 

Die Sitzblockade skandiert: „Oral, anal – statt christliche Moral“. „Die Hälfte von denen weiß garantiert nicht, wovon sie redet“, sagt ein Polizist zu seinem Kollegen. „Das sagt mir meine Lebenserfahrung.“

 

Die einen schweigen, die anderen machen Spektakel

 

Es sind sehr ungleiche Verhältnisse: Der Marsch ist ein Schweigemarsch und zieht still durch die Straßen. Die Gegendemonstranten machen einen Höllenlärm, sie liefern das Spektakel. Die Aufmerksamkeit richtet sich unweigerlich auf sie. So steht eine Frau am Straßenrand und vollzieht in Sekundenschnelle einen Striptease: Erst zieht sie ihr T-Shirt aus, dann streift sie den BH ab und präsentiert ihre Brüste.

 

„Wir haben Spaß – und ihr habt nur Jesus“, rufen die Gegendemonstranten. Der stundenlange Dauerlärm, die Trillerpfeifen und die Schmährufe sind nervenaufreibend. Wer mit kleinen Kindern da ist, wird es sich wahrscheinlich überlegen, ob er das nächste Mal noch teilnimmt.

 

Einer der „Marsch“-Teilnehmer ist Markus Neuss (24), Katholik und Mechatronik-Student. Er ist mit einer Gruppe von etwa 30 Leuten aus Köln angereist und zum zweiten Mal dabei. „Ich bin hier, um für die Schwächsten einzustehen“, sagt Neuss. Und was bringt es? „Ich will Aufmerksamkeit bei denen wecken, die bisher nicht darüber nachdenken, wie viele Kinder jeden Tag abgetrieben werden.“

 

Ein Bischof übt Kritik an der Kirche

 

Nach zwei Stunden ist der Marsch wieder am Hauptbahnhof angelangt. Dort lädt der Berliner Weihbischof Matthias Heinrich zum Abschlussgottesdienst. „Erbarme dich, Herr, denn wir haben vor dir gesündigt“, betet er – begleitet von Gegenrufen. Die christliche Lobpreisband „Koenige & Priester“ spielen; die Predigt hält der Greifswalder Bischof Hans-Jürgen Abromeit. Erstmals stellt sich ein evangelischer Bischof zum Marsch. Abromeit weist darauf hin, dass bereits die ersten Christen gegen eine „Kultur des Todes“ und für den Erhalt ungeborenen Lebens eingetreten seien. Er erzählt von einer 15-Jährigen, die schwanger wird – und das Kind mit Hilfe von Eltern, Kirchengemeinde und Jugendamt behält. Er beklagt, dass in Deutschland auf acht Geburten eine Abtreibung kommt. Abromeit fordert die Männer dazu auf, die Lasten der Frauen mitzutragen, und die Unternehmer, die Alleinerziehenden in ihren Betrieben zu unterstützen. Und er übt Selbstkritik an der Kirche. Manche Frauen hätten die Sexualethik der Kirche als heuchlerisch empfunden: „Wir haben uns als Christen und als Kirchen in den vergangenen Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten oft mit dem Mund für das Leben eingesetzt, aber nicht mit der Tat. Wir müssen selbstkritisch sagen, wir waren vielleicht häufiger die Vertreter einer bürgerlichen Moral als die Träger der Last von schwangeren Frauen, ledigen Müttern und jungen Familien.“ Abromeits Rede wird vom Pfeifkonzert der Gegendemonstranten begleitet.

 

Nach der Predigt macht Alexandra Maria Linder zwei ungewöhnliche Ansagen, die wohl in keinem anderen Gottesdienst denkbar wären: Während des Marsches sei ein älterer Mann von Gegendemonstranten tätlich angegriffen und zu Boden gerissen worden. Die Polizei bittet darum, dass er sich als Zeuge meldet. Auch die zweite Ansage hat mit der Polizei zu tun: Acht Hundertschaften seien an dem Tag im Einsatz gewesen, um den Marsch zu schützen, sagt Linder. Die 5.300 Teilnehmer danken es mit langem Beifall.