30.08.2016

Wie häufig kommt es zu geistlichem Missbrauch?

Bericht aus idea über die neue Clearingstelle der Deutschen Evangelischen Allianz

Wie häufig kommt es zu geistlichem Missbrauch?

Bericht aus idea über die neue Clearingstelle der Deutschen Evangelischen Allianz

Immer wieder einmal wird Teilen der evangelikalen Bewegung vorgeworfen, Menschen geistlich zu manipulieren und damit zu missbrauchen. Um dies zu überprüfen, hat der Dachverband der Evangelikalen – die Deutsche Evangelische Allianz – im Herbst letzten Jahres eine Clearingstelle ins Leben gerufen. Sechs Beauftragte stehen seitdem für Menschen zur Verfügung, die unter Machtmissbrauch und Manipulation leiden. Mit der Aufarbeitung solcher Erlebnisse ist die Hoffnung verbunden, dass diese Fälle in den Werken der Allianz in Zukunft vermieden werden können. Wie fällt die Zwischenbilanz aus? Ein Bericht von Karsten Huhn.

Nur zehn Kontakte – mehr gab es bisher nicht. Die Arbeit der ehrenamtlich tätigen Clearingstelle verlief bislang extrem ruhig. Mit einem von sechs Beauftragten können sich Betroffene über das Internet zu einem Telefonat verabreden. In zwei bis drei Gesprächen versuchen sie, Konflikte auszuräumen und gegebenenfalls Adressen für weitergehende Beratung oder Therapie zu vermitteln. Auf Wunsch vermitteln sie auch in Konfliktfällen. Wenn gegen Recht und Gesetz verstoßen wird, raten sie dazu, Anzeige zu erstatten. Dies war bisher lediglich einmal der Fall – es ging um den Vorwurf finanzieller Untreue eines Gemeindeleiters.


Beauftragte vermuten „hohe Dunkelziffer“

Die Klinikseelsorgerin Gudrun Siebert vermutet jedoch eine „hohe Dunkelziffer“ von Fällen geistlichen Missbrauchs. Sie nennt drei Gründe, warum das Gesprächsangebot bisher nicht stärker in Anspruch genommen wurde:

1. Die Clearingstelle ist noch zu wenig bekannt.

2. Die Hemmschwelle, den Kontakt zu suchen, ist zu hoch.

3. Gemeindegliedern fällt es schwer, Machtmissbrauch als solchen zu erkennen.

Ähnlich sieht es der Diakon Rudi Forstmeier. Er geht davon aus, dass viele Christen in Fällen von geistlichem Missbrauch den Fehler eher bei sich selbst suchen: „Sie denken, dass sie nicht genug beten, nicht genug glauben, nicht christlich genug leben und kein Recht haben, Pastoren oder Gemeindeälteste zu kritisieren.“ Auch der Familientherapeut Rolf Gersdorf sieht für Betroffene hohe Hürden: „Wer Kritik äußert, gilt in Gemeinden schnell als Nestbeschmutzer. Der Schritt, sich zu outen und eine Gegenposition zu beziehen, fällt sehr schwer. Wer gegen Missbrauch in den eigenen Reihen vorgeht, muss fürchten, seine Gemeinde zu verlieren. Das soziale System bricht ihm weg.“

Wie Gemeindeleiter ihre Macht missbrauchen

Die psychologische Beraterin Martina Kessler hält autoritäre und auch autoritative Leiterschaft für besonders gefährlich: „Der Leiter sagt, wo es langgeht, die Gemeinde muss widerspruchslos folgen.“ Kessler nennt folgende Strategien, wie Gemeindeleiter ihre Macht missbrauchen können:

1. Die Manipulation durch Visionen, etwa wenn ein Pastor mit der Aussage „Der Herr hat mir gesagt …“ weitreichende Veränderungen ankündigt, die von der Gemeinde widerspruchslos hingenommen werden sollen.

2. Besonders Bibelzitate sind für Missbrauch geeignet. So kann die Aufforderung „Betet ohne Unterlass“ dazu missbraucht werden, alle Probleme „wegzubeten“, anstatt Konflikte zu bearbeiten.

3. Die extrem einseitige Auslegung von Bibelstellen: Die Forderung, sich den Ältesten unterzuordnen, kann dazu missbraucht werden, keine Kritik an der Gemeindeleitung mehr zuzulassen.

4. Der Zwang, dem Täter vergeben zu müssen, etwa bei sexuellem Missbrauch. Dadurch können Straftaten verdeckt werden, anstatt sie zu ahnden.

Nicht nur charismatische Gemeinden im Blick

In „Mission unter falscher Flagge“ wurden ausschließlich charismatische bzw. ihnen verwandte pfingstkirchliche Organisationen kritisiert. Die Beauftragten der Evangelischen Allianz warnen jedoch davor, den Blick nur in diese Richtung zu wenden: „Ob in Landeskirchen, Freikirchen oder charismatischen Gemeinden – Machtmissbrauch findet sich überall“, sagt die Klinikseelsorgerin Gudrun Siebert.

Die Clearingstelle der Deutschen Evangelischen Allianz

Auslöser für die Gründung einer Clearingstelle war die 2014 in der ARD ausgestrahlte Reportage „Mission unter falscher Flagge – Radikale Christen in Deutschland“. Darin war mehreren charismatisch-evangelikalen Organisationen religiöser Machtmissbrauch und Mission unter falschen Vorzeichen vorgeworfen worden. Die betroffenen Werke wiesen die Vorwürfe zurück. Die Deutsche Evangelische Allianz nahm die Sendung zum Anlass, eine Anlaufstelle einzurichten, um geistlichen Missbrauch oder sexuelle Gewalt in den eigenen Reihen zu verhindern und eine „Kultur gesunder Gemeinden“ zu etablieren.

www.ead.de/die-allianz/clearing-stelle • 036741 2424

Die Mitglieder der Clearingstelle

Die sechs Beauftragten sind ehrenamtlich tätig und können direkt angesprochen werden. Sie sind zur Vertraulichkeit verpflichtet und werden nur in Absprache mit den Betroffenen mit Dritten Kontakt suchen. Die Allianz berief dafür (v. l. o.) den ehemaligen Beauftragten zur Beratung über neue religiöse Bewegungen im Kirchenkreis München, Diakon Rudi Forstmeier (München), den Leiter der Beratungsstelle „Leben im Kontext“, Rolf Gersdorf (Dortmund), die Koleiterin der Akademie für christliche Führungskräfte, Martina Kessler (Gummersbach), die Klinikseelsorgerin Gudrun Siebert (Hemer), den ehemaligen Leiter des Evangelischen Fachverbandes für Sexualethik und Seelsorge Weißes Kreuz, Rolf Trauernicht (Ahnatal bei Kassel), und den Vorsitzenden des Hauses der Stille Betberg, Hanspeter Wolfsberger (Betberg bei Freiburg).