27.01.2009
Serie Evangelikale: Ja zur Volkskirche, Nein zu Irrwegen
Serie „Evangelikale – wie sie wirklich sind“ (5): Evangelikale in der Landeskirche
Serie Evangelikale: Ja zur Volkskirche, Nein zu Irrwegen
Serie „Evangelikale – wie sie wirklich sind“ (5): Evangelikale in der Landeskirche
Die Evangelikalen sind nach der römisch-katholischen Kirche die größte Bewegung der Christenheit. Weltweit rechnen sich etwa 460 Millionen Christen den theologisch Konservativen zu, die meisten davon sind Mitglieder protestantischer Volks- und Freikirchen. In den letzten Monaten berichteten deutsche Medien meist kritisch über die Evangelikalen. idea hat bekannte Persönlichkeiten in Deutschland gebeten, aus ihrer Sicht die Vielfalt evangelikaler Theologie und Frömmigkeit zu beschreiben. Über „Evangelikale in der Landeskirche“ schreibt Dr. Christoph Morgner, Präses des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes. Diese Vereinigung Landeskirchlicher Gemeinschaften ist der größte Zusammenschluss von Christen in „evangelikaler“ Tradition im deutschsprachigen Europa.
Unter dem Etikett „evangelikal“ eingeordnet zu werden, bereitet mir und vielen meiner Freunde in den Landeskirchen theologische Bauchschmerzen. Denn „evangelikal“ ist ein sogenannter Containerbegriff. Da hat alles Mögliche Platz: vom beinharten Fundamentalisten über den martialischen Gotteskämpfer bis hin zum exaltierten Pfingstler. In solcher Gesellschaft fühle ich mich nicht wohl. Dennoch muss ich damit leben, zu den Evangelikalen gezählt zu werden. Es gibt eben Windmühlenflügel, gegen die es nicht zu kämpfen lohnt.
Obwohl es keine offiziellen Zahlen gibt, dürften zumindest die meisten der Evangelikalen in Deutschland in den 22 Landeskirchen der EKD beheimatet sein. Ein gewichtiger Teil davon findet sich in der Gemeinschaftsbewegung wieder, die als freies Werk in diesem Raum arbeitet. In ihr sind mehr als 90 verschiedene Organisationen zusammengeschlossen: Landesverbände, Diakonissen-Mutterhäuser, Missionsgesellschaften, theologische Ausbildungsstätten und andere Einrichtungen missionarischer und diakonischer Art. Auch in der (charismatischen) Geistlichen Gemeinde-Erneuerung (GGE) sammeln sich evangelikale Christen.
Kein Marsch durch die Institutionen
Dazu kommen Evangelikale in zahlreichen Kirchengemeinden, dazu auch in der großen Bewegung des CVJM mit seinen Landesverbänden und vielfältigen Einrichtungen sowie in anderen Jugendorganisationen, so u. a. im EC (Entschieden für Christus). Auch die protestantischen Kommunitäten sind hinzuzurechnen. Somit erweisen sich die Evangelikalen in den verschiedenen Landeskirchen als ein sowohl quantitativ als auch qualitativ bedeutender Faktor. Leider fällt deren Repräsentanz in den oberen Etagen nur spärlich aus. Es mangelt in evangelikalen Kreisen häufig an der Bereitschaft, sich über die örtliche Ebene hinaus einzubringen und so etwas wie gesunde Kirchenpolitik zu betreiben. Es gibt keinen evangelikalen Marsch durch die Institutionen.
Eine gemeinsame Wurzel
Was verbindet die unterschiedlichen Gruppen innerhalb der Kirche miteinander? Vor allem ist es die gemeinsame Wurzel: Alle gehen sie auf die Bewegung des Pietismus im 17. Jahrhundert zurück, die größte Frömmigkeits- und Erneuerungsbewegung, die es innerhalb der evangelischen Kirche gegeben hat und die es bis zum heutigen Tag gibt. Später wurde diese Bewegung durch die Erweckungsbewegung in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts und durch neupietistische Elemente aus dem angloamerikanischen Raum angereichert und verstärkt. Im Pietismus wurden die jeweils modernen Fragen aufgegriffen und mit der biblischen Botschaft sowie mit neuen Kommunikationsformen verknüpft. Das erklärt seine Dynamik bis zum heutigen Tag.
Die pietistischen Essentials
Der innerkirchliche Pietismus kultiviert keine Spezialthemen, sondern steht für ein bestimmtes Gesamtmodell Kirche. Darin wird – so unsere Überzeugung – den biblisch-reformatorischen Anliegen und künftigen Erfordernissen optimal Rechnung getragen. Eine evangelische Kirche der Zukunft wird wesentliche Elemente beinhalten müssen, die zu den pietistischen bzw. evangelikalen Essentials gehören. Einige seien genannt:
· das leidenschaftliche Verlangen, durch Mission und Evangelisation zum Glauben einzuladen. Das geschieht nicht nur in herausgehobenen Events, sondern auch in den regelmäßigen Gottesdiensten und anderen Veranstaltungen. Eine Kirche, die aus guten Gründen Kinder tauft, hat die Pflicht und Schuldigkeit, unermüdlich zum Glauben an Jesus Christus zu rufen. Evangelikale freie Werke und die Missionarischen Ämter der Landeskirchen arbeiten meist erfreulich gut zusammen.
· Die Wertschätzung der Bibelals geschriebenes Wort Gottes. In der Frage, wie mit der Bibel methodisch angemessen umgegangen werden kann, setzen Evangelikale durchaus unterschiedliche Akzente. Wir gehen als Pietisten davon aus: Die Heilige Schrift spricht am besten für sich selbst. Sie braucht keine eifernden Verteidiger, sondern schlichte Zeugen ihrer tragenden Wahrheit.
· Das Leben in der Heiligung. Der Glaube an Jesus Christus will alle Felder der Lebensführung prägend durchdringen. Evangelikale mühen sich, der Gabe des Glaubens in einem Lebensstil der Dankbarkeit und des Verantwortungsbewusstseins zu entsprechen.
· Der Raum für verantwortliche Mitarbeit der Laien. Das „Priestertum aller Glaubenden“ wird im Gemeindealltag praktiziert. Dahinter steht das Wissen um die prinzipielle Gleichwertigkeit aller Christen, aber auch das Wissen um die vielfältigen Charismen, die jeder Christ als „Gaben des heiligen Geistes“ empfängt. Hauptamtliche und sogenannte Laien begegnen sich auf Augenhöhe.
· Das Unterstreichen der Jesusbotschaft durch die Tat der Liebe. Das reicht von der spontanen Hilfsbereitschaft bis hin zur organisierten Diakonie auf allen denkbaren Ebenen.
· Der weltweite Blick. Dazu regen vor allem die zahlreichen Missionsgesellschaften an, die sich im evangelikalen Raum gebildet haben. Nach wie vor werden Missionare ausgesandt, Spenden zusammengelegt, Fürbitte praktiziert. In einer Zeit, in der immer mehr die Welt zum Dorf wird, können wir uns als Christen kein Kultivieren der eigenen kleinen Nische leisten. Andere lernen von uns. Wir lernen von anderen.
Ja zur Volkskirche ...
Als Evangelikale innerhalb der Volkskirche bringen wir uns nach Kräften in diese ein. Es ist unsere Kirche. Wir sagen zu ihr ein bewusstes, geistlich und theologisch begründetes Ja. Wir betrachten sie als das Feld, das uns nicht nur geschichtlich überkommen ist, sondern auf das wir uns heute von Gott gestellt sehen. Wir befinden uns nicht in der Kirche, obwohl die Kirche ist, wie sie ist, sondern weil sie ist, wie sie ist. Und sie ist, wie sie war. Deshalb gibt es uns als pietistisch geprägte Bewegungen. Nach wie vor erweist sich die Volkskirche als ein unglaublich großes Gefäß für göttlichen Segen. In ihr verfügen wir über einen vorzüglichen missionarischen wie diakonischen Resonanzraum. Unsere Wirkungsmöglichkeiten sind viel größer, als dass wir sie auch nur annähernd ausschöpfen könnten. Nur die Volkskirche bietet derzeit eine Chance, christliche Positionen im politischen Raum wirksam einzubringen.
... aber Nein zu ihren Irrwegen
Unser grundsätzliches Ja zur Kirche bedeutet jedoch nicht, dass wir damit auch ein Ja zu einzelnen Missständen sagen, die wir in der Kirche vorfinden und unter denen wir leiden. Ob es sich um die wegen ihrer inhaltlichen Voraussetzungen fragwürdige historisch-kritische Bibelauslegung handelt oder ein vermehrtes Einsickern der abzulehnenden „Bibel in gerechter Sprache“ in den gottesdienstlichen Gebrauch, ob es die gottesdienstliche Segnung homophiler Partnerschaften betrifft, um die es mittlerweile recht still geworden ist – zu diesen und anderen Irrwegen nehmen wir klar aus biblischer Sicht Stellung. Dabei mühen wir uns, „Wahrheit und Liebe“ (Eph. 4,15) miteinander zu verbinden.
Mehr promovierte evangelikale Theologen
Aber die Volkskirche ist mehr als die Summe der Missstände, an denen wir leiden. Es lohnt nach wie vor, sich in ihr zu engagieren und sich gezielt einzubringen. So freuen wir uns über die wachsende Zahl promovierter und habilitierter Theologen aus unseren Reihen. Einige unter ihnen bekleiden Lehrstühle an den Universitäten, was vor einigen Jahrzehnten noch völlig undenkbar war. Hier haben sich die Verhältnisse zum Besseren gewandelt. Unser Engagement zahlt sich langfristig aus: der Einsatz des Pfarrerinnen- und Pfarrer-Gebetsbundes (PGB) mit seinen Ferienseminaren für Theologiestudenten, die Fülle der Angebote für Theologiestudenten, vor allem in den Studienhäusern an Universitätsorten (z. B. das Albrecht-Bengel-Haus in Tübingen), die voruniversitären Angebote (z. B. das Geistliche Rüstzentrum Krelingen). Das alles bleibt nicht ohne segensreiche Spuren, was sich an der hohen Zahl junger Pfarrer ablesen lässt, die sich in unserem Sinne engagieren.
Aus Gemeinschaften werden Gemeinden
Auch strukturell zeichnen sich Veränderungen ab: Haben wir in der Gemeinschaftsbewegung anfänglich nur einen begrenzten Dienst wahrgenommen, der die Arbeit der Kirchengemeinden ergänzt hat, so wachsen wir zunehmend in einen stellvertretenden Dienst hinein. Das geschieht – in Absprache mit den jeweiligen Landeskirchen – in doppelter Weise: Zum einen übernehmen hauptamtliche Prediger für ihre Klientel und darüber hinaus kirchliche Kasualien. Zum anderen kommt es vermehrt zur Gründung von Personalgemeinden (Gemeinschaftsgemeinden), in denen aus Gemeinschaften organisatorisch Gemeinden werden, in denen von der Taufe bis zur Beerdigung ein umfassendes geistliches Zuhause geboten wird. Diese verstehen sich als Bestandteil evangelischer Kirche. Das Impulspapier der Leitung der EKD, des Rates, „Kirche der Freiheit“ geht davon aus, dass derartige Gemeindeformen zukünftig ca. 25% der volkskirchlichen Gemeinden ausmachen werden.
Gutes Verhältnis zur EKD
Das Miteinander der Evangelikalen in den Landeskirchen ist partnerschaftlich bestimmt: Gemeinsam wollen wir Kirche der Reformation bauen. Vielfach wird das Miteinander durch Vereinbarungen geregelt. Geordnete Gespräche zwischen den leitenden Gremien der EKD und den Evangelikalen sind mittlerweile selbstverständlich, So trifft sich der Gnadauer Vorstand in zweijährigem Turnus mit dem Rat der EKD. In den Jahren dazwischen finden Begegnungen zwischen den Referenten der Landeskirchen und den Verantwortlichen aus den Landesverbänden statt. In der EKD-Synode trifft der synodale Arbeitskreis zusammen, um sich inhaltlich abzustimmen. Ähnlich verhält es sich in den Synoden der Landeskirchen. Die EKD weiß, was sie an den Evangelikalen in ihren Reihen hat. Und umgekehrt gilt es auch: Wir Evangelikale schätzen den Wert der Landeskirchen und der EKD und stehen zu ihnen in kritischer Solidarität.