10.06.2001

Enthuellung: Stern-Kampagne "Wir haben abgetrieben!" war offenbar ein Bluff

Berlin (ALfA). Die Kampagne der Illustrierten Stern "Wir haben abgetrieben !", mit der diese Anfang der 70er Jahre fuer die ersatzlose Streichung des § 218 StGB gefochten hatte, war offenbar ein grosser Bluff. Das geht aus einer Reportage der "Berliner Zeitung" (Ausgabe vom 05.06.) hervor. Wir dokumentieren den Beitrag mit dem Titel "Zwei Leben" von Jutta Kramm in Auszuegen:

 

"Als sie ihr Kind zum ersten Mal sah, war es so klein wie ein Hemdenknopf. "Ich war fast 39 Jahre alt und wollte wissen, ob das Baby das Down-Syndrom haben koennte", sagt Nori Moeding. Sie entschloss sich zu einem Eingriff, der Chorionzottenbiopsie heisst. Sie liess Gewebeproben des Mutterkuchens entnehmen und genetisch analysieren. "Auf dem Ultraschall-Bildschirm konnte ich alles genau verfolgen. Das kleine Wesen ist regelrecht geflohen vor der Kanuele, wie ein Fisch schwamm es weg. Das war ganz klar: Es lebt und es hat durchaus den Willen, dieses Leben zu erhalten." Nori Moeding sieht ihre Tochter an. "Selbst wenn sich herausgestellt haette, dass Amira das Down-Syndrom gehabt haette: Ich glaube, ich haette das Kind nicht abtreiben koennen." Das war 1990. Amira ist heute zehn Jahre alt.

Am 6. Juni 1971 war Nori Moeding eine jener 374 Frauen, die sich oeffentlich zu einer Straftat bekannten. "Wir haben abgetrieben!" stand in dicken Buchstaben auf der Titelseite des "Stern". Dahinter die Fotos von 28 Frauen. Eines ist das Bild der zwanzig Jahre alten Eleonore Moeding. Als "Hausfrau" hat sie den Appell zur ersatzlosen Streichung des Paragrafen 218 unterschrieben. Die Aktion erregt damals, vor dreissig Jahren, ungeheures Aufsehen. Das kollektive Gestaendnis der Frauen, initiiert von der Feministin Alice Schwarzer, ist ein Tabubruch. Mit ihrem Bekenntnis wagen sie sich aus der Illegalitaet. Sie machen Sexualitaet und Schwangerschaft zum Politikum - bis dahin war es ihr privates Problem. Nun wird gestritten ueber Mutterschaft, den Beginn des Lebens und um die Wuerde des Ungeborenen. "Millionen Frauen treiben ab - unter erniedrigenden und lebensgefaehrlichen Umstaenden", schreiben die 374 Frauen in ihrem Appell, "ich bin gegen den Paragrafen und fuer Wunschkinder." Viele Argumente von damals tauchen heute in der Auseinandersetzung um die Gentechnik wieder auf. Die Tolerierung der Abtreibung gilt manchen nun als der erste Dammbruch, anderen als Suendenfall. (...)

Unter den Frauen, die sich 1971 mit Nori Moeding selbst anzeigen, sind bekannte Schauspielerinnen: Romy Schneider, Senta Berger, Sabine Sinjen, ebenso die Publizistin Carola Stern und das Fotomodell Veruschka Graefin von Lehndorff. Und schliesslich unterschreiben viele Unbekannte - Studentinnen, Sekretaerinnen, Hausfrauen, die meisten zwischen zwanzig und dreissig Jahre alt. "Selbstverstaendlich hatte ich nicht abgetrieben, so jung wie ich damals war", sagt Nori Moeding, "die meisten von uns hatten keinen Abbruch hinter sich. Und ich war auch nicht Hausfrau. Ich habe hier in Berlin am Otto-Suhr-Institut studiert und lebte in einer Wohngemeinschaft. Als Hausfrau habe ich mich nur ausgegeben, damit nicht nur Studentinnen dabei waren."

 

Die grosse Kampagne der Alice Schwarzer ein Bluff, ein gelungener Verkaufsschlager des "Stern"? Schwarzer selbst bestaetigt, dass sie ? "wie einige wenige" - nicht abgetrieben hatte. "Aber das spielte keine Rolle", sagt sie, "wir haetten es getan, wenn wir ungewollt schwanger geworden waeren. Das Selbstbekenntnis war kein moralischer, sondern ein politischer Akt." (...)

Nachdem der "Stern" erschienen ist, unterschreiben 3 000 Frauen bundesweit Selbstanzeigen, binnen weniger Wochen gehen mehr als 86 000 Solidaritaetserklaerungen ein. Nori Moeding und ihre Freundinnen sammeln in jenem Sommer auf Berliner Strassen, in Cafés und an der Universitaet viele Unterschriften. Kaum eine der Frauen rechnet damit, dass die Gruppe mit ihrer Selbstbezichtigung ein Stueck Geschichte schreiben wird, dass dies die Initialzuendung fuer die zweite deutsche Frauenbewegung ist. (...)

Die Bilanz nach dreissig Jahren Frauenbewegung? Alice Schwarzer, die mit der 218-Kampagne beruehmt geworden ist, blickt stolz zurueck. "Ich finde, dass wir Frauen in dreissig Jahren mehr erreicht haben als jemals zuvor in 4 000 Jahren Maennerherrschaft", sagt die Herausgeberin der Zeitschrift "Emma". "Das, wofuer wir feministischen Pionierinnen noch ausgelacht wurden, ist heute fuer 99 Prozent aller jungen Frauen selbstverstaendlich. Wenigstens theoretisch." Auch Nori Moeding ist ueberzeugt, dass die Frauen viel erreicht haben, worauf die Juengeren aufbauen koennen. "Wir haben Meilensteine gesetzt. Und unsere Ideen sind durchgesickert."
Der Paragraf 218 wurde im Jahr 1975 reformiert und spaeter einige Male ueberarbeitet. Ein Recht auf Abtreibung haben die Frauen nicht erreicht, nur Straffreiheit. Alice Schwarzer nennt das "einen fortwaehrenden Skandal".

Inzwischen dient die Tolerierung des Schwangerschaftsabbruchs als Argument dafuer, verbrauchende Embryonenforschung zuzulassen. Das stimmt Nori Moeding nachdenklich. "Damals hat mich die Verfuegung ueber meinen Koerper empoert. Die Parole "Mein Bauch gehoert mir", die war fuer mich schlagend. Das bedeutet, mein Leben gehoert mir und ich habe darueber zu entscheiden - und wenn es dann zwei Leben sind, eben mit ganz besonderer Sorgfalt und Verantwortung. Es ist mein Konflikt und meine Entscheidung. Und dafuer muss es eine gesetzliche Form geben." Niemals aber ist Nori Moeding davon ausgegangen, dass es sich bei dem Embryo nur um einen Zellhaufen handelt, um etwas, ueber das Erwachsene verfuegen koennen und das kein Lebensrecht hat - auch wenn es sich andere so leicht gemacht haben. (...)"

 

(mehr dazu: www.BerlinOnline.de)