15.04.2020

Covid-19 – Ein Weckruf?!

Ein Kommentar von Thomas Bucher, Generalsekretär der EEA

Diese Welt bietet ausreichend Ressourcen für alle Menschen, die in ihr leben

In allen Bereichen der Gesellschaft ist das Leben mit quietschenden Bremsen zu einem Stillstand gekommen. Was Volkswirtschaftler befürchtet hatten, ist plötzlich in einer Art und Weise wahr geworden, wie sie es sich vorher nicht vorstellen konnten. Experten hatten schon seit längerem vor einer Überhitzung des Marktes gewarnt. Allerdings gaben sie zu bedenken, dass es im Gegensatz zur Finanzkrise im Jahr 2008 keine Hebel mehr gebe, mit denen eine neue Krise abgewandt werden könne. Sowohl eine Senkung von Zinsen, die bereits bei 0% oder weniger angekommen sind, als auch  eine höhere Verschuldung der bereits bis zur Grenze der Belastbarkeit verschuldeten Nationen ist im Kampf gegen diese Krise nicht mehr wirksam einsetzbar.

Die Krise ist weder durch einen Einbruch der Aktienmärkte entstanden, noch hat sie eine andere finanzielle Ursache. Auslöser war ein kleiner Virus mit massiven Auswirkungen.

Obwohl wir in Europa derzeit noch mit Quarantänen, nationalen Ausnahmezuständen und einer neuen Lebensweise kämpfen, ist es dennoch wichtig, dass wir uns bereits jetzt die folgende Frage stellen: Könnte diese Covid-19-Krise, die uns auf brutale Weise die Zerbrechlichkeit unserer Strukturen und Systeme vor Augen führt, ein Weckruf für unsere westliche Welt sein?

Social Distancing

Ich frage mich, wer den Ausdruck “social distancing” (dt. soziale/gesellschaftliche Distanzierung) geprägt hat. Verdeutlicht es wirklich das, was wir wollen oder brauchen? Ich denke, dass das neuseeländische Konzept der “physische Distanzierung” etwas zutreffender beschreibt, was derzeit wirklich vonnöten ist. Der Ausdruck “soziale Distanzierung” deckt allerdings auf, was in vielen Gesellschaften immer mehr zur Norm wird. Tatsächlich praktizieren wir im Westen schon seit einiger Zeit “soziale Distanzierung”. Während wir individualistischer und egoistischer geworden und auf mehr Privatsphäre und große Auswahlmöglichkeiten bedacht sind; während wir uns selbst in sozialen Medien neu erschaffen haben, in welchen wir unsere wahre Natur und unseren Charakter, unsere Fehler und unser Versagen verbergen, haben wir uns immer weiter von wahrer Gemeinschaft entfernt. Wir bewegen uns nun in einer selbstisolierten Welt des “Ichs”. Seit Jahren schon distanzieren wir uns in sozialer Hinsicht von den “Andersartigen” und den “Geringeren”, von den Unattraktiven, den Armen, den Älteren und den Kranken. Stetig verehrten wir die Schönen, die Starken, die Erfolgreichen und die Gesunden – und distanzierten uns auf sozialer Ebene von denen, die nichts davon besaßen.

Ist die Kirche hier eine Ausnahme? Haben wir einen anderen Weg gewählt? Einen besseren Weg? Wurden wir mit einem Virus infiziert? Wenn ja, mit welchem? Und welcher Virus ist wirklich gefährlicher? Die frühe Kirche war dafür bekannt, dass sie sich der Schwachen und Verletzlichen annahm. Man fand sie unter den Kranken und den Armen und sie nahm Babys auf, die am Wegesrand zurückgelassen wurden. Die heutige Kirche engagiert sich noch immer in vielen dieser Bereiche. Viele der bewährten Praktiken sind aber heute in unsere Sozialsysteme integriert. Einige wurden von gewinnbringenden Geschäften verdrängt oder die Regierungen können oder wollen sie nicht anbieten. Und aus diesem Grund brauchen wir immer noch eine Kirche, welche den Menschen eine helfende Hand anbietet.

In diesen Tagen, in denen ein aktiver Virus nicht nur Europa, sondern die ganze Welt befällt, bedarf es deshalb zwar einer vernünftigen physischen Distanzierung, aber soziale Nähe. Soziale Nähe ist das, was die Menschen gesund und am Leben hält. Soziale Nähe drückt sich in unserer Art und Weise aus, wie wir die Liebe Jesu mit einer besorgten und verängstigten Welt teilen. Anstatt darüber nachzudenken, was durch diesen Virus zunichte gemacht werden wird, sollten wir kreativ darüber nachdenken, was in dieser Krise erreicht werden kann. Wir sollten uns jetzt außerdem Gedanken darüber machen, was all dies für uns als Kirche bedeutet, wenn die Krise vorbei ist. Lasst uns schon jetzt Veränderung bewegen und gute Praxis vorantreiben.

Der Wunsch nach einem Leben im Überfluss

Die westliche Welt hat einen Lebensstandard festgelegt, der vom Großteil der eigenen Bevölkerung, aber auch von vielen Menschen aus der nicht-westlichen Welt gewünscht oder zumindest nicht in Frage gestellt wird. Dafür bezahlen wir in vielen Lebensbereichen einen Preis. Der durchschnittliche Haushalt gibt mehr Geld aus als er verdient. Viele sind verschuldet. Selbstverständlich wurde dies von der Wirtschaft gefördert, die uns immer wieder erklärt, dass nur eine wachsende Wirtschaft eine gesunde Wirtschaft sei. Wir müssen also Güter in großen Mengen konsumieren. Doch das ist zweifelsohne schädlich für uns als Menschen, für Gottes Schöpfung und sicherlich für unsere Länder, die eine solch erdrückende Verschuldung zu tragen haben. Diese Überzeugung übt schon seit langer Zeit eine zerstörerische Wirkung auf uns aus.

Vor nicht allzu langer Zeit war es noch weise und tugendhaft, über einige Reserven für den Fall einer Krise zu verfügen. Jetzt ist die Krise da und viele Menschen besitzen keine Reserven. Stattdessen sind sie mit Schulden beladen und ohne ein Einkommen, um sie zu bezahlen, geschweige denn, sie durch diese Krise zu tragen.

Und schon jetzt drucken Nationen Geld und verschulden sich noch stärker, um das vorhandene System zu retten. Was bereits 2008 nicht funktionierte, soll jetzt mit noch mehr Geld aus einer noch höheren Verschuldung gelingen. Es gibt ein Sprichwort, das besagt: “Werfe nicht gutes Geld schlechtem hinterher!”. Und wer wird in den kommenden Jahrzehnten für die Schulden bezahlen? Wollen wir der nächsten Generation wirklich eine solche Last auferlegen?

Könnte die gegenwärtige Krise ein Weckruf sein, um zu einem angemesseneren, einfacheren Lebensstil zurückzukehren? Könnte es sein, dass weniger wieder mehr Qualität in unser Leben bringen würde? Welche Rolle spielt die Kirche, wenn es darum geht, den Mythos des “Mehr” zu entlarven und die gegenwärtigen Systeme und Überzeugungen in Frage zu stellen? Was unternimmt die Kirche in ihrer Vorbildfunktion, um dies umzusetzen?

 Die gegenwärtige Krise als eine Chance, Dinge anders zu machen

Hast Du den Unterschied auf Satellitenbildern im Hinblick auf die Verschmutzung in China vor und nach dem Ausbruch von Covid-19 bemerkt? Umweltschützer waren von dem Unterschied begeistert! Uns bietet sich hier ein extremes Bild und es wirft eine Frage auf: Wollen wir tatsächlich zu einer solchen Umweltverschmutzung zurückkehren oder gäbe es einen alternativen Weg? Und ich denke dabei nicht nur an China. Es gibt diverse Arten von Umweltverschmutzungen in unseren Ländern, die wir thematisieren sollten.

Hier ein persönliches Beispiel: Ich arbeite in einem Beruf, in dem eine gute Vernetzung erforderlich ist. Oft reise ich, weil persönliche Treffen wertvoll und hilfreich für den Aufbau von Beziehungen sind. Der Kontakt über andere Kanäle (mit Hilfe von Technologie) hilft dann, diese Beziehungen auszubauen. Aber die gegenwärtige Krise dient als eine gute Erinnerung an die bestehenden Alternativen zu ständigem Reisen, und ich sollte mich öfter fragen, ob es wirklich notwendig ist, zu fliegen, oder ob ich mich nicht auch auf virtuellem Wege mit den Menschen in Verbindung setzen kann.

Diese Welt bietet ausreichend Ressourcen für alle Menschen, die in ihr leben. Für jeden Einzelnen gäbe es die Möglichkeit, ein menschenwürdiges, einfaches Leben zu führen. Könnte diese Covid-19-Krise eine Gelegenheit sein, unsere Lebensweise neu zu überdenken und Änderungen vorzunehmen, die nicht nur “mir”, sondern auch “uns” und allen anderen um uns herum und darüber hinaus zugutekommen?

Der vielleicht am stärksten von der Krise betroffene Bereich ist unser Bewusstsein für den “anderen”. Jetzt, da wir nur noch eingeschränkt in Kontakt miteinander treten können, spüren wir es in einer neuen Tiefe. Die Trennung voneinander fällt nicht leicht. Den Schmerz, die Angst, die Besorgnis und die Trauer der Menschen zu sehen und sie nicht in den Armen halten oder sie in irgendeiner Weise berühren können, ist unglaublich schwer. Aber statt in Trauer und Verzweiflung zu versinken, haben wir neue Wege gefunden, um die Menschen zu erreichen. Wir gehen auf Balkone hinaus und singen einander zu, bieten in Obdachlosenheimen freiwillig unsere Hilfe an, kaufen für unsere Nachbarn ein und rufen diejenigen an, die keinen Computer oder Internet haben. Wir mussten neu lernen, miteinander in Verbindung zu treten. Plötzlich machen Alter, Hautfarbe und Status keinen Unterschied mehr. Wir alle sind Menschen mit einem Bedürfnis nach Liebe, Mitgefühl und Fürsorge. Ich hoffe, wir werden das nie vergessen!

Ich bin mir bewusst, dass wir nie in der Lage sein werden, den Himmel auf die Erde zu bringen. Aber ich möchte nicht unter denen angetroffen werden, die die Worte Jesu “Arme habt ihr allezeit bei euch” fälschlicherweise benutzen, um einen Lebensstil auf Kosten anderer zu rechtfertigen.

Es gibt Hoffnung in dieser Krise, aber um sie zu bringen, zu verbreiten und spürbar zu machen, bedarf es noch einer weiteren Krise; eine Krise, die mich und Dich aus unserer Selbstzufriedenheit aufschreckt. Eine von Gott gesandte Herzenskrise, die zum Gehorsam führt. Werden wir Gott erlauben, genau das zu tun?

Möge er uns ein williges Herz, einen willigen Verstand und willige Hände geben!

Thomas Bucher
Generalsekretär der EEA

www.europeanea.org/covid-19-ein-weckruf/