04.04.2020

Corona: Warum wir kein Gefühl für die Gefahr haben

Ein Kommentar von Dr. Jörg Dechert

Leiten // Veränderung / Medien // Kultur

Die Corona-Krise nimmt vielen jedes Zeitgefühl. Welcher Wochentag ist heute? Wer in Quarantäne zu Hause ist, oder in Kurzarbeit, oder im Home Office, muss da oft erstmal nachdenken. Ohne Einkaufen, Kino und Gottesdienstbesuch verschwimmen für viele die Tage ineinander.

Was gravierender ist: Auch für den zeitlichen Verlauf der Krise verlieren wir schnell jedes Gefühl. Das liegt an der notwendigen medialen Dauerthematisierung, an der kontraproduktiven medialen Daueralarmierung im Stundentakt, und an der e-Funktion.

An was?

Der e-Funktion. In der Krise zeigt sich die vom Lehrer früher verzweifelt behauptete Nützlichkeit des Mathematikunterrichts. E-Funktion bedeutet „exponentielles Wachstum“ – im Gegensatz zu einer gleichmäßigen, „linearen“ Entwicklung. Etwas wird nicht nur nach und nach immer mehr (das wäre linear), sondern es wird immer schneller und schneller immer mehr (das bedeutet exponentiell).

Für lineares Wachstum haben die meisten Menschen ein Gefühl, das lernen schon Kinder, wenn sie das erste Mal eine Kanne kippen, um Wasser einen Becher zu füllen. Für exponentielles Wachstum aber haben wir Menschen keinerlei Gefühl.

Selbsttest gefällig?

Wenn du heute einen Schritt vor die Tür gehst, und morgen zwei, übermorgen vier und dann immer so weiter, jeden Tag doppelt so viele Schritte wie am Vortag – wie weit würdest du heute in vier Wochen laufen?

Antwort: Soweit, dass du unseren Planeten sechs Mal umrunden könntest.

Ich sag’s ja: Wir Menschen haben keinerlei Gefühl für exponentielle Entwicklungen.

Und das gilt auch in der Corona-Krise. Vor zwei Wochen, am 20. März, habe ich folgenden Screenshot von „Zeit Online“ zur Ausbreitung von Corona in Deutschland gemacht.

Knapp 19.000 bestätigte Infektionen, 50 Tote. Schlimm, habe ich damals gefühlt. Und gewusst: Es wird immer schneller und schneller immer schlimmer werden, wenn wir nichts unternehmen. Die e-Funktion eben.

Um mir das selbst vor Augen zu führen, habe ich damals den Screenshot gemacht, und heute, zwei Wochen später, wieder einen. Hier ist er:

Über 90.000 bestätigte Infektionen, über 1.300 Tote.

Zwischen diesen beiden Screenshots liegen gerade einmal 14 Tage – nur wie ein kurzer Urlaub im Bayerischen Wald (den man zur Zeit nicht machen kann). Und – e-Funktion, du weißt schon – in zwei Wochen reden wir vielleicht über knapp 10.000 Tote, und die Grafik von heute wird uns wie aus einer anderen Zeit vorkommen.

Das ist keine Panikmache, das ist Mathematik.

Und deshalb ärgere ich mich auch sehr über Zeitgenossen, die ihr und unser aller fehlendes Gefühl für exponentielles Wachstum kompensieren, indem sie die Statistik in Frage stellen. Sie bezweifeln, „ob denn alle diese Leute wirklich an Corona gestorben seien“, „ob nicht jedes Jahr an Grippe genauso viele Menschen sterben“, und so weiter und so weiter.

Freunde, so viele Gründe ihr auch immer benennt, warum ihr die Statistik an der einen oder anderen Stelle bezweifelt, ob ihr im ein oder anderen Detail Recht habt oder nicht – ihr kommt am Ende an der e-Funktion nicht vorbei. Und die bestimmt am Ende die Dynamik, ganz egal was ihr euch vorstellen oder nicht vorstellen könnt.

Mathematik nimmt auf Gefühle eben keine Rücksicht, und deshalb hört bitte damit auf, die Corona-Gefahr mit linearen Entwicklungen wie der Unfallstatistik oder Abtreibungszahlen oder was auch immer sonst euch bewegt zu vergleichen.

Solange es noch keinen Impfstoff gibt und nicht 60-70% eurer Freunde und Familien Corona bekommen und überstanden haben, solange haben wir ohne Schutzmaßnahmen exponentielles Wachstum.

Und das bedeutet: In zwei Wochen werden wir uns die Grafik von heute zurückwünschen.

Deshalb bleibt diszipliniert, folgt dem Konsens der Epidemie-Fachleute, lasst euch von Abweichungen in Details nicht irre machen und von effektheischenden Schlagzeilen („Jetzt steht für Deutschland alles auf dem Spiel“, WELT Online) nicht in Panik versetzen.

Und verankert eure innere Hoffnung dort, wo sie festen Grund findet.